Johann Wolfgang von Goethe: ErlkönigWer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. “Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?” “Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?” “Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.” “Du liebes Kind, komm’, geh’ mit mir! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; Manch bunte Blumen sind an dem Strand; Meine Mutter hat manch gülden Gewand.” “Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht?” “Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind! In dürren Blättern säuselt der Wind.” “Willst, feiner Knabe, du mit mir geh’n? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.” “Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort?” “Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau.” “Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.” “Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan!” Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. |
Heinrich Heine: LoreleiIch weiß nicht, was soll es bedeuten, Dass ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein. Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar; Ihr goldenes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar. Sie kämmt es mit goldenem Kamme Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei. Den Schiffer im kleinen Schiffe Eregreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felden riffe, Er schaut nur hinauf in die Höh. Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lorelei getan. |
Hermann Hesse: Im NebelSeltsam, im Nebel zu wandern!Einsam ist jeder Busch und Stein, Kein Baum sieht den andern, Jeder ist allein. Voll von Freunden war mir die Welt, Als noch mein Leben licht war; Nun, da der Nebel fällt, Ist keiner mehr sichtbar. Wahrlich, keiner ist weise, Der nicht das Dunkel kennt, Das unentrinnbar und leise Von allen ihn trennt. Seltsam, Im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, Jeder ist allein. |
Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A.An jenem Tag im blauen Mond SeptemberStill unter einem jungen Pflaumenbaum Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe In meinem Arm wie einen holden Traum. Und über uns im schönen Sommerhimmel War eine Wolke, die ich lange sah Sie war sehr weiß und ungeheuer oben Und als ich aufsah, war sie nimmer da. Seit jenem Tag sind viele, viele Monde Geschwommen still hinunter und vorbei. Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen Und fragst du mich, was mit der Liebe sei? So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst. Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst. Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen Wenn nicht die Wolke dagewesen wär Die weiß ich noch und werd ich immer wissen Sie war sehr weiß und kam von oben her. Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind Doch jene Wolke blühte nur Minuten Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind. |
Rainer Maria Rilke: Der PantherIm Jardin des Plantes, ParisSein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbeso müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein. |
Kurt Tucholsky: Das IdealJa, das möchste:Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – aber abends zum Kino hast dus nicht weit. Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit: Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn! Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn, Radio, Zentralheizung, Vakuum, eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm, eine süße Frau voller Rasse und Verve – (und eine fürs Wochenend, zur Reserve) – eine Bibliothek und drumherum Einsamkeit und Hummelgesumm. Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste, acht Autos, Motorrad – alles lenkste natürlich selber – das wär ja gelacht! Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd. Ja, und das hab ich ganz vergessen: Prima Küche – erstes Essen – alte Weine aus schönem Pokal – und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal. Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion. Und noch ne Million und noch ne Million. Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit. Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit. Ja, das möchste! Aber, wie das so ist hienieden: manchmal scheints so, als sei es beschieden nur pöapö, das irdische Glück. Immer fehlt dir irgendein Stück. Hast du Geld, dann hast du nicht Käten; hast du die Frau, dann fehln dir Moneten – hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer: bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher. Etwas ist immer. Tröste dich. Jedes Glück hat einen kleinen Stich. Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. Daß einer alles hat: __das ist selten. |
Sarah Kirsch: Ich bin sehr sanftIch bin sehr sanft nennmich Kamille meine Finger sind zärtlich baun Kirchen in deiner Hand Nägel Flügelschuppen von Engeln liebkosen ich bin der Sommer der Herbst selbst der Winter im Frühling möchte ich bei dir sein du zeigst mir das Land wir gehn von See zu See da braucht es ein langes glückliches Leben die Fische sind zwei die Vögel baun Nester wir stehn auf demselben Blatt. |
Mascha Kaleko: Kleine Havel-AnsichtskarteDer Mond hängt wie ein Kitsch-LampionAm märk’schen Firmament. Ein Dampfer namens “Pavillon” Kehrt heim vom Wochenend. Ein Chor klingt in die Nacht hinein, Da schweigt die Havel stumm. – Vor einem Herren-Gesangverein Kehrt manche Krähe um. Vom Schanktisch schwankt der letzte Gast, Verschwimmt der letzte Ton. Im Kaffeegarten “Waldesrast” Plärrt nur das Grammophon. Das Tanzlokal liegt leer und grau. (– Man zählt den Überschuß) Jetzt macht selbst die Rotundenfrau Schon Schluß. Von Booten flüstert’s hier und dort. Die Pärchen ziehn nach Haus. – Es artet jeder Wassersport Zumeist in Liebe aus. Noch nicken Föhren leis im Wald. Der Sonntag ist vertan. Und langsam grüßt der Stadtasphalt, Die erste Straßenbahn… |
Martin Auer: Über die ErdeÜber die Erde sollst du barfuß gehen. Zieh die Schuhe aus, Schuhe machen dich blind. Du kannst doch den Weg mit deinen Zehen sehen. Auch das Wasser und den Wind. Sollst mit deinen Sohlen die Steine berühren, mit ganz nackter Haut. Dann wirst du bald spüren, dass dir die Erde vertraut. Spür das nasse Gras unter deinen Füßen und den trockenen Staub. Lass dir vom Moos die Sohlen streicheln und küssen und fühl das Knistern im Laub. Steig hinein, steig hinein in den Bach und lauf aufwärts dem Wasser entgegen. Halt dein Gesicht unter den Wasserfall. Und dann sollst du dich in die Sonne legen. Leg deine Wange an die Erde, riech ihren Duft und spür, wie aufsteigt aus ihr eine ganz große Ruh’. Und dann ist die Erde ganz nah bei dir, und du weißt: Du bist ein Teil von Allem und gehörst dazu. |
Dijaki, ki opravljajo maturo na višji ravni, morajo prebrati knjigo Birgit Vanderbeke: Geld oder Leben. V pisnem sestavku morajo izraziti lastna stališča o vsebini dela.